Aggressionen bei Teenagern: Triebkraft oder Zerstörungswut?

Viele Jugendliche gelten als aufbrausend, schlecht gelaunt und gereizt. Ihr Verhalten wird als provokativ und oft auch als „aggressiv“ erlebt. Lesen Sie in diesem Beitrag, was Aggression eigentlich ist, warum sie auch eine positive Kraft sein kann, und warum Jugendliche sich so oft „aggressiv“ verhalten. 

Inhaltsverzeichnis

Aggressivität in der Pubertät

Bringst du bitte den Mülleimer runter?“ – „Nö, hab jetzt keinen Bock!“ – „ich möchte aber, dass du das tust. Und zwar bitte jetzt!“ – „Später!“ – Nein , jetzt!“ – „Warum soll ich das denn schon wieder machen? Der Luis macht mal wieder gar nix!“ – „Ich werde jetzt echt ärgerlich. Mach bitte einfach, worum ich dich gebeten habe!“ – „Sei doch nicht so aggressiv! Chill doch mal!“ – „Ich bin doch gar nicht aggressiv, ich sag halt einfach nur deutlich, was ich von dir erwarte!

Kaum ein Thema ist in Familien heikler als das Thema Aggression: Was ist das überhaupt? Darf man aggressiv sein? Und wenn ja, wie oft und wann? Wie gehen wir damit um, wenn uns jemand aggressiv gegenüber tritt? Und wie gehen wir mit unseren eigenen Aggressionen um? Was genau macht uns aggressiv?

Diese Fragen beschäftigen uns ein Leben lang, denn die Aggression ist unsere ständige Begleiterin. Sie begegnet uns im gesellschaftlichen Leben, in Straßenverkehr und auch in der eigenen Familie. Und natürlich sind wir selbst auch manchmal aggressiv. Manchmal macht Aggression uns Angst, oft löst sie ebenfalls Aggression aus. Aggression hat einen schlechten Ruf, weil sie uns unangenehm ist und weil sie gelegentlich in psychische oder physische Gewalt umschlägt. Doch ist Aggression tatsächlich immer negativ? Und könnten wir die Kraft der Aggression nicht konstruktiv nutzen, um unser Leben zu meistern?

Aggression in der Pubertät: Angeborener Trieb oder Folge von Frustration?

Um einige dieser Fragen zu beantworten, müssen wir zunächst definieren, was Aggression eigentlich ist. Der Begriff Aggression stammt ursprünglich aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie heranschreiten, sich nähern, angreifen. Eine allgemein gültige Definition von Aggression gibt es nicht. Über Herkunft, Bedeutung und Funktion menschlicher Aggression wird bis heute auch in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Die drei wichtigsten theoretischen Ansätze zur Erklärung und Definition von Aggression sind folgende:

1. Aggression als angeborener Trieb: Das psychoanalytische Modell

Der Freudschen Theorie zufolge gibt es einen angeborenen Aggressionstrieb, der auch als Todestrieb bezeichnet wird. Dieser äußert sich in zerstörerischen und destruktiven Verhaltensweisen gegenüber anderen. Der Todestrieb steht der Libido (= Geschlechtstrieb) gegenüber, gilt aber als Teil des Eros (= Lebenstrieb). Der Aggressionstrieb dient der Zerstörung anderer Objekte und Menschen, in erster Linie zur Sicherung des eigenen Überlebens und zur Arterhaltung, er bringt aber auch sadistisches Verhalten zum Vorschein.

2. Aggression als Reaktion auf Frustration: Die Frustrations-Aggressions-Hypothese

Der „Frustrations-Aggressions-Hypothese“ nach Dollard/ Miller entsteht menschliche Aggression immer als Reaktion auf Frustration und Zurückweisung, sofern sie nicht anders verarbeitet oder kompensiert werden kann. Als hochgradig frustrierend erleben Menschen z.B. Kränkungen, Gewaltanwendung, Beleidigungen, soziale Ausgrenzung, Demütigung, Beschämung, Herabwürdigung, Ungerechtigkeit, Armut, unmenschliche Lebensbedingungen etc.

3. Aggression als erlernte Verhaltensweise: Lerntheoretische Erklärung

Eine dritte Theorie besagt, dass aggressives Verhalten erlernt wird wie andere Verhaltensweisen auch. Das Kind schaut sich das „aggressive“ Verhalten von den Erwachsenen oder Geschwistern ab und wendet es dann an, wenn es sich als hilfreich erweisen könnte oder wenn es das für „passend“ hält. Aggressives Verhalten wird dieser Theorie zufolge umso häufiger angewendet, je mehr Erfolgserlebnisse damit erzielt werden. So lernt etwa ein Schulkind, dass ihm im Unterricht mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, wenn es sich auffallend aggressiv verhält. Sein Verhalten erfüllt also einen gewissen Zweck und wird im Zweifelsfall wieder auftauchen, wenn es sich als hilfreich erweist und das Kind keine anderen Möglichkeiten erlernt, Aufmerksamkeit zu erlangen.

Des Weiteren gibt es biologisch begründete Therorieansätze, die Aggression als Folge neurochemischer Prozesse im Gehirn erklären, sowie ethnologische Erklärungsversuche, die kulturelle Bedingungen als Begründung für aggressives Verhalten heranziehen.

Nach wie vor herrscht darüber Uneinigkeit, ob Aggression angeboren oder erlernt ist. Man geht allerdings mittlerweile übereinstimmend davon aus, dass sich hinter aggressiven Verhaltensweisen bestimmte Motive bzw. Bedürfnisse „verstecken“, etwa das Bedürfnis nach mehr Zuwendung, nach Gerechtigkeit, nach mehr Sicherheit etc. Aggressives Verhalten wird also benutzt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das geschieht oft reflexhaft und unbewusst. Bestimmte Arten der Aggression sind in gewissen gesellschaftlichen Bereichen jedoch auch gern gesehen, etwa in politischen Debatten, in Unternehmen („Ellenbogengesellschaft“), aber auch bei sportlichen Wettkämpfen oder in Kriegssituationen. Wenn Aggression unbewusst oder bewusst eingesetzt wird, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, spricht man auch von instrumenteller Aggression.

Insgesamt kann man festhalten

  1. Aggressives Verhalten dient oft der Überlebenssicherung, insbesondere in Notsituationen.
  2. Aggressives Verhalten dient oft dem Schutz des eigenen Lebens sowie dem der Nachkommen.
  3. Aggressives Verhalten dient oft dazu, bestimmte Ziele zu erreichen und eigene Interessen gegebenenfalls gegen den Willen anderer durchzusetzen.
  4. Aggressives Verhalten dient oft als Kompensation von Frustration.
  5. Bestimmte Formen aggressiven Verhaltens sind in unserer Gesellschaft in bestimmten Bereichen sozial erwünscht.

Übrigens: Wussten Sie schon, dass aggressives Verhalten nicht immer aktiv sein muss? Es gibt auch passive Aggression: Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die Person, statt etwas zu tun, was zu tun wäre, dies eben unterlässt. Unterlassene Hilfeleistung kann Ausdruck passiver Aggression sein. Oder wenn jemand Probleme aussitzt, obwohl ein anderer diese mit ihm aus der Welt schaffen möchte.

Passive Aggression ist schwieriger festzustellen als aktive Aggression und deshalb auch schwer zu fassen. Zu passiver Aggression neigen Menschen, die sich nicht trauen, ihre Wut und ihren Ärger deutlich zu benennen, sie greifen dann auf andere Mittel zurück, die weniger offensiv wirken. Sie agieren „hinterrücks“ oder verhalten sich intrigant. Menschen, die passive Aggression zu spüren bekommen, reagieren mit heftigen Gefühlen darauf, etwa mit Ärger, Wut oder auch mit dem Gefühl extremer Hilflosigkeit.

11 Gründe, „voll aggro“ zu werden: Warum Teenager manchmal aggressiv sind

Gehen wir davon aus, dass aggressives Verhalten in erster Linie dazu eingesetzt wird, um eigene Ziele und Interessen durchzusetzen oder bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, so stellt sich die Frage, welche Ziele Jugendliche eigentlich verfolgen. Hier finden Sie die wichtigsten Wünsche und Bedürfnisse:

1. Jugendliche wollen mehr Freiraum

Teenager fühlen sich schnell eingeengt und kontrolliert. Um diesen Freiraum zu sichern bzw. zu erweitern, werden sie mitunter heftig, laut oder auch wütend, eben „aggressiv“.
2. Jugendliche wollen Aufmerksamkeit

Obwohl sie sich oft zurückziehen und selbst bestimmen wollen, wann sie mit wem worüber sprechen, sind sie dennoch auf die Zuwendung und Aufmerksamkeit der Eltern angewiesen. Aggressives oder lautes, rebellisches Verhalten ist durchaus gelegentlich dazu geeignet, Aufmerksamkeit zu erhalten.
3. Jugendliche wollen ein klares Gegenüber und die emotionale Präsenz der Eltern

Aggressiv wirkendes Verhalten lockt insbesondere Väter aus der Reserve und zwingt sie, Position zu beziehen bzw. Präsenz zu zeigen. Ein rebellischer lauter Jugendlicher ruft so (oft unbewusst!) nach einem „starken“, zugewandten Vater.
4. Jugendliche wollen in Ruhe gelassen werden

Das steht nicht im Widerspruch zu dem oben genannten Wunsch nach Aufmerksamkeit. Sie brauchen beides: Zuwendung und Rückendeckung, aber auch genug Zeit und Raum für sich allein. Wenn Sie sich oft bedrängt und ihren persönlichen Raum bedroht fühlen, reagieren Sie häufig gereizt, also im weitesten Sinne „aggressiv“.
5. Jugendliche wollen selbst bestimmen, was sie tun und lassen

Das können sie allerdings nur sehr eingeschränkt, da sie erstens bestimmte Leistungen erbringen müssen (Schulpflicht!), zweitens weil sie noch nicht volljährig sind und bestimmte Entscheidungen nicht treffen dürfen. Das kann Jugendliche ärgerlich machen. Als Folge davon reagieren Sie mitunter extrem genervt, wenn man ihnen etwas Unliebsames abverlangt, wie etwa den Mülleimer raustragen oder andere Kleinigkeiten.
6. Jugendliche wollen gerecht behandelt werden

Da Teenager sehr genau beobachten und darüber hinaus auch sehr sensibel sind, achten Sie extrem darauf, ob sie selbst besser, schlechter oder genauso behandelt werden wie andere Gleichaltrige oder die Geschwister. Daraus resultieren dann lästige Diskussionen, wer wann zum letzten Mal den Tisch abgewischt hat oder welches Handy der beste Freund von seinen Eltern zum Geburtstag geschenkt bekommen hat. Die Sorge, „zu kurz zu kommen“, steht bei Jugendlichen ganz weit oben! Fühlen Sie sich dann tatsächlich ungerecht behandelt, kann sie das ganz schnell aus der Fassung bringen und aggressiv machen.
7. Jugendliche wollen ihre Interessen durchsetzen

Ihr Kind will auf eine Party, Sie wollen das aber nicht? Dann ist eine wütende Reaktion darauf nichts Ungewöhnliches. Ihr Kind fühlt sich in seinen Rechten und Möglichkeiten beschnitten – und das macht im weitesten Sinne „aggressiv“!
8. Jugendliche wollen respektiert werden

Aggressives Verhalten kann dabei helfen, sich bei anderen mehr Respekt zu verschaffen. Besonders unter pubertierenden Jungen gibt es da manchmal Pöbeleien oder sogar Rangeleien. Hierbei spielt nicht nur das Testosteron eine Rolle, sondern auch das tiefe Gefühl von Selbstunsicherheit. Wer sich seiner selbst einigermaßen sicher ist und in sich ruht, braucht solche „MachoSpielchen“ nicht.
9. Jugendliche brauchen Abstand zu den Eltern

Das heißt nicht, dass sie ihre Eltern nicht mehr mögen, sondern dass sie sich einfach unabhängiger von ihnen machen wollen. Dazu gehört ein gewisses Maß an gesundem Abstand. Je enger und verwickelter die Bindungen vorher waren, umso mehr Abstand muss ein Jugendlicher herstellen. Das geschieht, indem er die Eltern (die bisher vielleicht immer die Tollsten waren) jetzt für doof und/oder peinlich erklärt und sich von ihnen auch innerlich distanziert. Reicht das nicht aus, hilft aggressiv wirkendes, unfreundliches oder abweisendes Verhalten auf jeden Fall, die Eltern auf Abstand zu bekommen.
10. Jugendliche wollen gehört und wahrgenommen werden

Auch wenn Teenager uns bewusst manches verheimlichen und nicht immer sehr auskunftsfreudig sind, legen sie doch sehr großen Wert darauf, dass das, was Sie sagen, von uns registriert und akzeptiert wird. Haben sie das Gefühl, dass wir nicht richtig hinhören oder ihre Argumente und Wünsche nicht ernst nehmen, reagieren sie entweder mit innerem Rückzug und Resignation oder mit „Aggression“.
11. Jugendliche wollen sich angenommen und wertgeschätzt fühlen

Dieses Grundbedürfnis des Menschen geht natürlich auch in der Pubertät nicht verloren. Teenager freuen sich ebenfalls über positives Feedback, freundliche und bestärkende Worte sowie den „Stolz in den Augen“ des Vaters bzw. der Mutter. Bleibt das alles jedoch aus, und der Jugendliche fühlt sich nicht ausreichend wertgeschätzt, kann das sein Selbstwertgefühl beeinträchtigen. Außerdem macht der Mangel an Wertschätzung hilflos, traurig und wütend. Eine latente aggressive Grundhaltung könnte auf einen (gefühlten!) Mangel an Wertschätzung hindeuten.