Freiraum geben und trotzdem präsent bleiben

Viele Eltern hadern mit der Vorstellung, ihr Kind irgendwann „loslassen“ zu müssen. Sie verbinden damit oft Abschied und Verlust. Dabei geht es beim Loslassen weniger darum, den Kontakt einzuschränken, sondern vielmehr darum eine Beziehung auf Augenhöhe entstehen zu lassen. Lesen Sie hier, wie Sie Ihr Kind auf dem Weg ins Erwachsenenalter am besten begleiten. 

Inhaltsverzeichnis

Die hohe Kunst des Loslassens

Ihr Kind loszulassen haben Sie als Eltern im Grunde genommen schon lange geübt. Ob es das Kleinkind war, das sich im Sandkasten immer weiter weg traute, oder das Schulkind, das zum ersten Mal auf Klassenfahrt ging:

Immer wieder mussten Eltern und Kinder lernen, vorübergehend Abschied voneinander zu nehmen und Trennungen zu verkraften. In der Pubertät nimmt dieser Prozess noch mehr Raum ein, denn auf der Zielgeraden zum Erwachsenwerden muss der Jugendliche sich noch viel mehr abnabeln als vorher. Die erste Bewährungsprobe ist für Eltern häufig die erste große Liebe.

Dennoch benötigen Teenager einen sicheren Hafen, an dem sie bei Bedarf wieder „andocken“ kann. Die Aufgabe, die Eltern in dieser Phase leisten müssen, ist,

  • dem Kind einerseits immer mehr Eigenverantwortung zu überlassen, aber
  • ihm gleichzeitig auch ausreichend Halt und Geborgenheit zu geben, damit es sich emotional sicher verankert fühlt.

Loslassen hat also nichts mit Gleichgültigkeit, emotionaler Abwendung oder innerem Rückzug zu tun. Im Gegenteil: Beim Loslassen geht es darum, dem Kind immer mehr Freiraum zu lassen sowie gleichzeitig angemessen ansprechbar und präsent zu bleiben.

Frühe positive Bindungserfahrungen prägen und tragen ein Leben lang

Kleine Kinder lernen phasenweise ohne ihre Eltern auszukommen, indem sie ein sogenanntes „positives Introjekt“, also ein „gutes inneres Bild“ ihrer Bezugspersonen, entwickeln. Dieses innere Bild von Mutter und Vater gibt ihnen die stärkende Gewissheit, dass sie zwar vielleicht nicht vor Ort, aber trotzdem da sind, und zwar im besten Falle als liebevolle Beschützer und Begleiter. Wenn das Kind in seinen frühen Jahren positive und stabile Bindungserfahrungen gemacht hat, fällt es ihm in der Regel nicht schwer, sich von den Eltern oder anderen Bezugspersonen zu entfernen und sich ihnen wieder anzunähern, also eine gute Mischung aus Bindung und Autonomie zu entwickeln. Eine gute Bindungserfahrung in der frühen Kindheit gilt als beste Basis, um eine gesunde Persönlichkeit entwickeln und selbstständig werden zu können. Wenn Sie also bis jetzt eine liebe- und vertrauensvolle Bindung zu Ihrem Kind hatten, hat es die allerbesten Voraussetzungen, um sich zu einem tatkräftigen und selbstbewussten Erwachsenen zu entwickeln!

Entwicklungsziele in der Pubertät: Was Ihr Kind jetzt lernen muss und wie Sie ihm dabei helfen können

  1. Ihr Sprössling muss sich jetzt emanzipieren, also aus der Rolle des abhängigen und schutzbedürftigen Kindes herauswachsen. Das schafft es nur, wenn Sie Ihrerseits willens und in der Lage sind, ihm das zu gestatten und diesen Prozess zu befördern. Alles, was das Kind weiterhin unselbstständig hält, ist kontraproduktiv.
  2. Ihr Kind muss lernen, sich in seiner Einzigartigkeit anzuerkennen und anzunehmen. Das fällt ihm leichter, wenn es von den Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen rundum angenommen wird und sich geliebt weiß. Sich geliebtzu fühlen, ist wunderbarer Humus, auf dem sich die Persönlichkeit des Jugendlichen gut entwickeln kann. Übrigens: Jemanden voll und ganz anzunehmen, heißt natürlichnicht, all seine Verhaltensweisen gutzuheißen und zu dulden. Einen Jugendlichen zu lieben, heißt nicht, sich alles gefallen zu lassen!
  3. Der Jugendliche muss lernen, seine Potenziale und Fähigkeiten zu entfalten, seine besonderen Begabungen und Interessen herauszufinden. Dabei helfen Sie ihm, indem Sie ihn spiegeln („Ich habe das Gefühl, dass du handwerklich wirklich was drauf hast“). Geben Sie ihm aber auch ein bisschen Zeit, das alles in Ruhe zu entwickeln. Erzwingenlässt sich hier nichts. Manche Kinder brauchen ein bisschen länger, um zu erkennen, wo ihre Interessen liegen.
  4. Der Jugendliche muss lernen, mit seinen „Schwächen“ umzugehen, seinen sich verändernden Körper kennen und lieben zu lernen etc. Auch hier gilt: Jemand, der sich insgesamt sicher angenommen fühlt, tut sich damit leichter. Der Prozess der Selbstannahme dauert aber seine Zeit: So kann es sein, dass Ihr Kind vorübergehend mit seinem Aussehen hadert oder sich über andere vermeintliche „Mängel“ grämt. Diese Selbstzweifel legen sich normalerweise mit der Zeit.
  5. Ihr Kind muss lernen, den eigenen Handlungsradius zu erweitern: Sowohl mental als auch räumlich orientiert es sich nun nicht mehr so dicht an den Eltern. Das bedeutet, dass der Jugendliche immer mehr Erfahrungen macht, die mit den Eltern nichts zu tun haben, etwa in der peer group, mit dem ersten Freund/der ersten Freundin etc. Eltern helfen ihren Kindern dabei am besten, indem Sie diesen wachsenden Einfluss anderer Menschen auf Ihr Kind nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung sehen und sich angemessen zurückhalten.

So entwickeln Sie langsam eine Beziehung auf Augenhöhe

Beim Prozess des Erwachsenwerdens geht es nicht darum, dass sich das Kind von den Eltern komplett ablöst. Vielmehr geht es um eine differenzierte Umgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung: Das Ziel ist eine erwachsene Beziehung auf Augenhöhe, in der das Kind auf typisch kindliches und Eltern auf typisches elterliches Verhalten verzichten können.

Als typisches kindliches Verhalten könnte man etwa bezeichnen:

  • sich bedienen lassen zu wollen,
  • materiell versorgt werden zu wollen,
  • zu erwarten, dass Mama und Papa das schon „richten“ werden (z. B. Probleme in der Schule etc.), rundum versorgt werden zu wollen („Ich habe Hunger!“, soll heißen: „Koch mal was!“),
  • keine eigene Meinung zu haben oder immer „contra“ zu geben etc.

Manchmal legen Teenager solche Verhaltensweisen wieder verstärkt an den Tag, nachdem sie vorher eigentlich schon recht eigenständig waren. Das kann ein Zeichen von entwicklungsbedingter Verunsicherung, manchmal aber auch einfach von Bequemlichkeit sein. Bedienen Sie diese kindlichen Verhaltensweisen und Forderungen immer unkritisch, tun Sie Ihrem Kind und sich selbst allerdings keinen Gefallen. Schrauben Sie die Dosis „mütterliches Rundum-Versorgungsprogramm“ dann bewusst langsam herunter!

Typisch elterliches Verhalten könnte etwa sein:

  • Kontrolle haben zu wollen („Ich muss wissen, was du machst!“),
  • Macht ausüben zu wollen („Ich sag dir, was du machen musst!“),
  • das Gefühl zu haben, den jungen Menschen versorgen zu müssen („Ich muss mich um dich kümmern!“), Überlegenheitsgefühle zu zeigen („Ich weiß es besser als du!“) usw.

Loslassen üben: Was Sie schon können, und was Sie noch lernen sollten

Beim Loslassen geht es also auch darum, langsam und wohldosiert aus der Rolle der versorgenden, sich immer kümmernden und kontrollierenden Mutter bzw. des Vaters herauszuwachsen. Das bedeutet immer auch, die eigenen elterlichen Verhaltensweisen zu beobachten und zu prüfen, ob sie noch angemessen sind. Oft spiegeln uns Teenager deutlich wider, wie sie unser Verhalten finden. Nehmen Sie Bemerkungen à la „Ich bin doch kein Baby mehr!“ nicht nur ernst, sondern unbedingt auch zum Anlass zu der Überlegung, an welcher Stelle Sie Ihr Verhalten verändern und an das Alter Ihres Kindes anpassen sollten.

Mein Tipp
Überlegen Sie sich doch einmal, was für typische Elternfragen Sie manchmal stellen. Würden Sie diese Fragen auch Erwachsenen, etwa Bekannten, stellen? Welches für Sie typische Elternverhalten fällt Ihnen noch ein? Durch diese Überlegungen kommen Sie Ihren Verhaltensmustern auf die Spur und können sie dann langsam verändern.

Loslassen üben: Was Sie schon können, und was Sie noch lernen sollten

Die Phase der Pubertät ist für Eltern nicht nur deshalb eine Herausforderung, weil es so viele Spannungen mit den Jugendlichen gibt, sondern weil sie auch gezwungen sind, sich mit sich selbst, ihrer Erziehungshaltung und ihren Gefühlen auseinanderzusetzen. Damit das Kind erwachsen werden kann, müssen Mutter und Vater bereit sein, sich aus ihrer Elternrolle langsam und angemessen zurückzuziehen. Je mehr sich Eltern diesem Prozess widersetzen, desto stärker wird das Kind rebellieren oder sich resignativ zurückziehen. Sich selbst in seiner Funktion als Elternteil sukzessive „überflüssig“ zu machen, ist nicht immer leicht. Besonders wenn Mütter und Väter aus dieser Rolle viel Bestätigung bezogen haben, fällt es ihnen manchmal schwer, sie aufzugeben. Deshalb ist es wichtig, sich selbst und seine innere Haltung hin und wieder liebevoll, aber kritisch zu überprüfen.

Mein Tipp
Blicken Sie doch einmal in Ihre eigene Pubertät zurück. Welches Verhalten Ihrer Eltern hat Ihnen das Gefühl vermittelt, ernst genommen zu werden? Was hat Ihnen daran gefallen? Woran merkt Ihr Kind, dass Sie ihm immer mehr Eigenverantwortung überlassen? Und woran merkt es, dass Sie ihm immer mehr zutrauen? Wenn Sie das nicht beantworten können, fragen Sie Ihr Kind doch einfach mal.