Opferrolle: So helfen Sie Ihrem Teenager, sich nicht immer an allem schuld zu fühlen

Teenager fühlen sich oft schuldig an Konflikten und Problemen innerhalb der Familie, weisen jedoch gleichzeitig alle Schuld von sich. Das bringt Eltern in eine schwierige Situation. Hier erfahren Sie woran es liegen kann, dass manche Jugendliche sich häufig als Opfer fühlen, und wie Sie ihnen am besten helfen können. 

Inhaltsverzeichnis

Warum sich Pubertierende als Opfer fühlen

„Ich bin doch sowieso hier der Buhmann! Ich kann es euch doch nie recht machen. Entweder ich bin euch zu faul oder zu laut oder zu oft weg oder zu schlecht in der Schule. Alles mache ich falsch!“ Marvin (14) ist wütend. Er ist zusammen mit seinen Eltern zur Beratung gekommen, weil es in der Familie immer öfter Streit gab. Irgendwann eskalierte ein Konflikt so, dass Marvin schimpfend das Haus verließ und erst am nächsten Tag wieder auftauchte. Die Eltern waren seitdem ständig in Angst und Sorge um Marvin und beschlossen deshalb, sich Hilfe zu holen. „Aber Marvin“, sagt dessen Mutter beschwichtigend, „das ist doch gar nicht wahr! Wir haben dich doch sehr lieb und machen uns viele Sorgen um dich!“ Marvin wird nun noch lauter: „Quatsch!“, Ihr seid doch total unzufrieden mit allem, was ich mache! Nie ist es euch gut genug! Und wenn ihr schlechte Laune habt und euch streitet, dann bin ich auch daran schuld!“.

Im weiteren Verlauf der Beratung geht es darum auseinanderzudröseln, woran Marvin nun wirklich „schuld“ ist, also wofür er tatsächlich die Verantwortung trägt. Und woran er eben nicht schuld ist. Marvin wird so einerseits emotional entlastet („Ich bin nicht daran schuld, wenn meine Eltern sich streiten, denn das liegt in ihrer Verantwortung!“), andererseits kommt er aus seiner passiven Opferrolle heraus und kann jetzt mehr Verantwortung für sein Verhalten übernehmen („Ich kann selbst etwas tun, um mich besser zu fühlen“): Seine Selbstwirksamkeit wird gestärkt, er wird selbstbewusster. Marvins Eltern bemühen sich gleichzeitig, offener und weniger vorwurfsvoll mit Marvin umzugehen. Das Familienklima entspannt sich deutlich, die Streitereien werden seltener und sind nun nicht mehr so heftig.

5 mögliche Gründe, warum sich Pubertierende häufig als Opfer fühlen

So ähnlich wie Marvin geht es vielen Jugendlichen in der Pubertät. Sie fühlen sich ungerecht behandelt, nicht wahrgenommen, an allem Schuld und letztlich als Opfer der Eltern, Schule, Freunde oder Umstände. 

Gründe hierfür können sein:

  1. Die entwicklungsbedingte Sensibilität und Selbstunsicherheit der Jugendlichen. Teenager sind noch nicht reif genug, um sich immer als selbstwirksam zu erleben. Sie wissen noch nicht so recht, wofür sie verantwortlich sind und wofür nicht.
  2. Die entwicklungsbedingte Egozentrik des Teenagers. Er bezieht vieles, was um ihn herum geschieht, auf sich, und fühlt sich daher schnell schuldig, missverstanden oder schlecht behandelt.
  3. Die Angst, übersehen zu werden, und/oder die Erfahrung, zu kurz zu kommen. Teenager, die schon oft das Gefühl hatten, nicht das zu bekommen, was sie (emotional) brauchen, können sich schnell schlecht behandelt bzw. als Opfer fühlen.
  4. Aber auch ungünstige elterliche Verhaltensweisen können erheblich dazu beitragen, ob sich ein Kind als „Opfer“ fühlt, z. B. weil ein Geschwisterkind bevorzugt behandelt wird oder das Kind oft Vorwürfe zu hören bekommt und zu wenig Bestätigung erfährt.
  5. Manche Jugendliche werden in ihren Familien tatsächlich zu „Sündenböcken“ gemacht. Die Botschaft, die dahintersteckt, lautet: „Wenn du bloß anders wärst, als du bist, hätten wir keine Probleme mehr. Du bist schuld daran, dass es uns so schlecht geht!“ Diese Botschaft ist für Jugendliche sehr belastend. Und sie ist auch nicht richtig: An Familienproblemen sind naturgemäß immer mehrere Personen beteiligt.

5 Tipps: So befreien Sie Ihr Kind aus der Opferrolle!

  1. Reagieren Sie auf Vorwürfe Ihres Kindes nicht mit Gegenvorwürfen oder mit Kontaktabbruch. Nehmen Sie die Vorwürfe zur Kenntnis und sagen Sie: „Ich habe gehört, was du mir vorwirfst, ich werde mir darüber Gedanken machen, ob du vielleicht Recht hast.“ Damit signalisieren Sie, dass Sie seine Vorwürfe ernst nehmen, und verschaffen Sie sich gleichzeitig ein bisschen Distanz zu den Vorwürfen – und natürlich Zeit, um darüber nachdenken zu können.
  2. Prüfen Sie, was Ihr Kind Ihnen genau vorwirft. Ist etwas dran an diesen Vorwürfen? Dann geben Sie das offen zu: „Ich glaube, das war wirklich nicht fair von mir. Es tut mir leid!“ Sagen Sie aber auch, wenn Sie sich für etwas nicht verantwortlich fühlen: „Ich bin nicht schuld daran, wenn du für deine Arbeit zu wenig lernst. Das liegt in deinem Verantwortungsbereich.“
  3. Überlegen Sie, wie Sie Ihrem Kind begegnen können, ohne ihm ein schlechtes Gewissen einzureden. Sagen Sie z.B. klar, was Sie erwarten, machen Sie keine Vorwürfe etc. Bedenken Sie aber auch: Wenn ein Kind so „gepolt“ ist, dass es sich ständig schuldig fühlt, dann kann es alles als Vorwurf interpretieren und „gegen“ sie verwenden. Lassen Sie sich nicht in ein solches „Spiel“ verwickeln, sondern bleiben Sie klar und freundlich. Gegebenenfalls hilft – wie oben beschrieben – eine Familienberatung weiter. 

Schuldgefühle: So helfen Sie Ihrem Kind, wenn es sich oft schuldig fühlt

Typische Problemsituationen, mögliche Ursachen und hilfreiche Tipps
Beispiel/Situation/VerhaltenMögliche Ursache für das VerhaltenWie Sie am besten damit umgehen
Ihr Kind weist stets jede Schuld von sichDas Kind fühlt sich oft (unbewusst) schuldig und kann das so schlecht ertragen, dass es jegliches Schuldgefühl von sich weist (Abwehrmechanismus). Erklären Sie Ihrem Kind den Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung. Schuld wiegt schwer und ist unangenehm; Verantwortung stärkt und fühlt sich gut an. So ist Ihr Kind nicht „schuld“ daran, wenn Sie sich über es ärgern, aber verantwortlich dafür, welche Note es schreibt – natürlich auch dann, wenn sie gut ist!
Ihr Kind ist verletzt, verärgert und wütend über etwas, was Sie an ihm kritisiert habenIhr Kind fühlt sich fälschlicherweise beschuldigt (er/sie war es wirklich nicht!), oder Sie haben seinen „wunden Punkt“ getroffen.

Kommen Sie mit Ihrem Kind ins Gespräch: „Was genau hat dich denn so geärgert, traurig gemacht …?“

Zeigen Sie Verständnis und bitten Sie gegebenenfalls um Entschuldigung für die Wortwahl, den Tonfall etc. Sie müssen trotzdem vom Inhalt Ihrer Aussage nicht abrücken, sondern könnten z.B. sagen: „Es tut mir leid, wenn ich dich mit meiner Aussage verletzt habe. Ich wollte dir nicht wehtun, sondern dich eigentlich nur bitten, das nächste Mal pünktlich nach Hause zu kommen.“

Ihr Kind fühlt sich seinen Geschwistern gegenüber benachteiligt.

Ihr Kind ist tatsächlich in früheren Lebensphasen emotional zu kurz gekommen und musste das bis jetzt kompensieren (passiert aus Versehen, wenn die Geschwister dicht aufeinander folgen oder wenn die Mutter z.B. lange krank war).

Seine Geschwister gelten als pflegeleichter oder sind die (heimlichen) Lieblingskinder; Ihr Kind spürt das, es tut ihm weh!

Ihr Kind ist gerade sehr sensibel und beobachtet sehr genau, wie es behandelt wird. Es legt alles auf die Goldwaage und ist sehr kritisch.

Meistens ist es eine Mischung aus allem!

Versuchen Sie herauszufinden, ob Sie ein Geschwisterkind tatsächlich bevorzugen. Überlegen Sie, warum das so ist!

Nehmen Sie den Schmerz, Neid, Kummer etc. Ihres Kindes dann ernst.

Sprechen Sie möglichst offen mit ihm darüber, das kann sehr hilfreich und heilsam sein.

Zeigen Sie ihm ganz bewusst und deutlich Ihre Zuneigung.

Lassen Sie sich jedoch nicht erpressen, frei nach dem Motto: „Wenn du schon xy lieber hast als mich, muss du mir wenigstens die teureren Klamotten kaufen!“

Ihr Kind ist provokativ, „auffällig“, aggressiv, ritzt sich; es zieht sich von der Familie zurück, will keinen Kontakt mehr oder hat sogar SuizidfantasienIhr Kind erlebt sich als Sündenbock der Familie. Es denkt, wenn es nicht da wäre, hätte die Familie keine Probleme mehr. Hier liegen meistens tieferliegende Probleme im Familiensystem vor – eine Familientherapie könnte hilfreich sein!
Ihr Kind wird gemobbt (und meint vielleicht sogar, es sei auch noch selbst schuld daran)Ungünstige Konstellationen in der Schule oder im Umfeld; der Gemobbte ist nicht schuld daran, sondern die Täter sind es!

Sofort Hilfe holen, Lehrer einweihen, Tatbestände sichern (beleidigende E-Mails ausdrucken, Screenshots von Chat-Verläufen machen etc.), gegebenenfalls die Polizei einschalten.

Geben Sie Ihrem Kind Rückendeckung. Stärken Sie es, machen Sie ihm Mut. Ziehen die gegebenenfalls einen Klassen- oder Schulwechsel in Erwägung, wenn die erhoffte Unterstützung und Verbesserung ausbleibt, oder nehmen Sie jugendtherapeutische Hilfe zur Stärkung Ihres Kindes in Anspruch

Ihr Kind sagt jedes Mal, wenn er um etwas gebeten wird: „Immer muss ich das machen!“Ihr Kind fühlt sich ungerecht behandelt oder überfordert. Oder es möchte sich vor der Arbeit drücken und appelliert so an Ihr Gewissen …

Prüfen Sie, ob das Kind tatsächlich überfordert oder ungerecht behandelt wird, also „zu viel“ mithelfen muss, etwa deutlich mehr als andere Gleichaltrige oder seine Geschwister. Wenn das der Fall ist, könnten Sie ihn von einigen Pflichten entbinden.

Wenn das nicht der Fall ist: Lassen Sie sich nicht auf Diskussionen ein oder unter Druck setzen. Bleiben Sie klar und konsequent.