So entwickelt sich das Gehirn Ihres Kindes

Weil Erwachsene sich nicht an die Zeit vor ihrem dritten Lebensjahr erinnern können, glaubte man früher, dass das Gedächtnis von Babys und Kleinkindern nur sehr eingeschränkt funktioniert. Neuere Forschungen widerlegen diese These jedoch ganz entschieden. Dieser Artikel ermöglicht Ihnen spannende Einblicke in die Gedächtnisentwicklung von Babys und Kleinkindern. 

Inhaltsverzeichnis

Erinnern und Merken

Nie wieder in seinem Leben erlebt und lernt ein Mensch so viel Neues wie in den ersten drei Lebensjahren – und doch kann sich niemand daran erinnern. Das liegt nicht etwa an einem schlechten Gedächtnis, sondern daran, dass Babys und Kleinkinder wichtige Voraussetzungen, ohne die Erinnerungen nicht möglich sind, noch nicht erworben haben.

3 Faktoren sind wichtig fürs Erinnern

Gehirnforscher gehen davon aus, dass die folgenden drei Faktoren zusammenspielen müssen, damit man sich später an erlebte Ereignisse erinnern kann:

  1. Ich-Entwicklung. Erinnerungen sind erst möglich, wenn ein Mensch sich selbst als Individuum erkennen kann. Im Alter zwischen zwei und drei Jahren entwickeln Kinder die Erkenntnis, dass sie ein eigenständiges Leben führen, und entdecken das eigene Ich. Sie lernen, sich zeitlich in ihre Umwelt einzuordnen, begreifen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Erst wenn die Kleinen eine Vorstellung davon haben, dass sie die Person „Leon“ oder „Sarah“ sind und dies auch schon vor einer Stunde, gestern und letzen Monat waren, können sie Erinnerungen abspeichern und wieder abrufen.
  2. Sprachkompetenz. Erst wenn ein Kind seine Muttersprache relativ gut beherrscht, beginnt das so genannte „autobiographische Gedächtnis“, in dem persönliche Erlebnisse gespeichert werden, zu funktionieren. Frühe Erlebnisse, die ein Kind noch nicht mit Worten beschreiben konnte, lassen sich später im Erwachsenenalter nicht mehr abrufen.
  3. Hirnreife. Das Gehirn von Babys und Kleinkindern befindet sich in einem ständigen Auf- bzw. Umbau und unterscheidet sich von dem eines Erwachsenen. Erst in der Pubertät ist das neuronale Netzwerk so weit ausgebildet, dass die Abspeicherung von Erinnerungen optimal funktioniert. 

Reden Sie viel mit Ihrem Kind – und es wird sich eher erinnern

Ist Ihr Kleinkind jünger als zwei bis drei Jahre, kann es Ihnen sehr wohl erzählen, was es letzte Woche oder sogar vor wenigen Monaten erlebt hat, und trotzdem ist diese Erinnerung später im Erwachsenenalter nicht mehr abrufbar. Sie können jedoch beeinflussen, ob Ihr Kind nur die ersten drei Lebensjahre „vergisst“ oder auch noch das vierte.

Wie weit die Erinnerungen zurückreichen, ist sowohl von der Kultur als auch von der Beziehung zu den Eltern abhängig. Das ergab eine Studie an kanadischen und chinesischen Kindern. In westlichen Ländern gehen im Schnitt etwa die ersten dreieinhalb Lebensjahre verloren, bei den chinesischen Kindern hingegen sogar mehr als die ersten vier. Die Forscher vermuten, dass der Umgang der Eltern mit ihren Kindern hierbei eine große Rolle spielt.

In westlichen Kulturen ist die Kommunikation innerhalb der Familie viel stärker auf das Kind ausgerichtet. Die Kleinen spielen in den Ereignissen, über die in der Familie gesprochen wird, eine wichtige Rolle. Daher fällt es ihnen leichter, sich an Ereignisse zu erinnern, weil sie einen emotionalen Bezug dazu haben. Die Gespräche über Erlebtes sind in China hingegen stärker sozial orientiert. Sich die eigenen Erfahrungen einzuprägen gilt dort als weniger wichtig.

Gefühle und Gerüche helfen beim Erinnern

Bei uns und in anderen westlichen Kulturen ist es zudem üblich, dass Mütter mit ihren Babys und Kleinkindern oft und viel sprechen. Allein das dürfte nach Ansicht von Hirnforschern bereits einen stimulierenden Effekt auf die Gehirnentwicklung der Kinder haben. Das bestätigt eine neuseeländische Studie, für die die Unterhaltungen zwischen Müttern und ihren zwei bis vier Jahre alten Kindern aufgezeichnet wurden. Die Kinder wurden im Alter von 12 bis 13 Jahren nach ihren frühesten Erinnerungen befragt. Dabei zeigte sich, dass bei denjenigen Kindern, deren Mütter sehr detailliert mit ihnen über Erlebtes gesprochen hatten, die ersten Erinnerungen früher einsetzten als bei den anderen. Da Mütter mit ihren Töchtern öfter und ausführlicher über alltägliche Erlebnisse sprechen als mit den Söhnen, haben Frauen laut einer italienischen Studie deutlich mehr frühe Kindheitserinnerungen als Männer.

Sehr frühe „Erinnerungen“ (vor dem dritten Lebensjahr) sind hingegen nicht echt. Sie können z. B. entstehen, wenn wir bestimmte Begebenheiten immer wieder erzählt bekommen und/oder Fotos oder Filme darüber ansehen. Irgendwann glaubt man dann, sich daran zu erinnern, obwohl das nicht den Tatsachen entspricht. 

Gefühle und Gerüche helfen beim Erinnern

Begebenheiten bleiben am besten in Erinnerung, wenn wir davon innerlich bewegt sind (egal ob freudig, traurig oder beschämt). Häufig sind intensive Erinnerungen auch an Gerüche und Geschmacksempfindungen gekoppelt. Das Geruchsgedächtnis ist evolutionsbiologisch sehr alt und sicherte früher das Überleben. Die Fähigkeit, Gerüche mit bestimmten Erinnerungen zu verbinden (z. B. der Duft von Bratäpfeln mit gemütlichen Adventsabenden bei Oma), ist uns bis heute erhalten geblieben. 

Wie schöne Erinnerungen für Ihr Kind entstehen

Natürlich haben Sie es nicht in der Hand, woran sich Ihr Kind im Einzelnen später einmal erinnern wird. Doch können Sie die Grundstimmung seiner Kindheitserinnerungen durch eine Atmosphäre von Geborgenheit positiv beeinflussen, sodass Ihr Kind sich erinnern wird, dass es sich geliebt und beschützt gefühlt hat. Gehen Sie auf Ihr Kind ein. Kinder lieben es, wenn man sich ganz auf sie konzentriert und mit ihnen etwas unternimmt, was sie besonders interessiert. Für kleine Tierliebhaber z. B. können Zoobesuche und für kleine Wasserratten Schwimmbadnachmittage das Nonplusultra  sein. Manchmal reicht auch schon ein beliebtes Ritual wie etwa auf Papas Schultern reiten. Wenn Ihr Kind „mit Leib und Seele“ dabei ist, wird es sich später eher daran erinnern können. 

Sprechen Sie über Ihre Erlebnisse.

Gönnen Sie Ihrem Kind Wiederholungen. Erwachsene finden es meist langweilig, bestimmte Spiele immer wieder zu spielen, wochenlang dieselbe Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen oder bestimmte Lieblingslieder immer wieder zu singen. Doch solche vertrauten und geliebten Erlebnisse, die häufig wiederholt werden, speichert das Gehirn leichter ab als einmalige Begebenheiten. 

Sprechen Sie über Ihre Erlebnisse.

Wie die obigen Forschungen zeigen, entstehen Erinnerungen leichter, wenn über die Ereignisse gesprochen wird.

Mein Tipp: Ideal ist dafür ein Gespräch beim Abendessen oder auf der Bettkante.Wenn Ihr Kind kurz vor dem Einschlafen mit Ihnen über seine schönen Momente des Tages spricht, werden diese leichter im Gehirn verankert. Denn im Schlaf wird Erlebtes noch weiter verinnerlicht. Allerdings sollten auch Probleme, die tagsüber aufgetreten sind, zur Sprache kommen, damit Ihr Kind sie nicht „mit in den Schlaf“ nehmen muss.

Bewegung hilft beim Erinnern. Körperliche Aktivität – sei es nun bei einer Wanderung oder auf einer Fahrradtour – fördert die Ausschüttung von Glückshormonen. Diese intensivieren die Wahrnehmung von Erlebnissen, sodass sie leichter im Gedächtnis bleiben.