Emmi Pikler’s revolutionäre Kleinkindpädagogik

An Mamas Hand gehen üben? Besser nicht, denn jedes Kind entwickelt sich in seinem eigenen Tempo, und es ist gar nicht sinnvoll, Entwicklungsprozesse beschleunigen zu wollen. Lassen Sie Ihrem Kind die Zeit, die es dazu braucht. Schenken Sie ihm auch bei der Pflege genügend Zeit. So wird es sich zufrieden und selbstbewusst entwickeln. 

Inhaltsverzeichnis

Pikler-Pädagogik

Die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler fragte sich vor über 70 Jahren, was ein gesundes Kind braucht, um sich gut zu entwickeln. Und sie fand Antworten, die auch heute noch topaktuell sind. Die nach ihr benannte Pikler-Pädagogik findet in Deutschland immer mehr Anhänger.

Emmi Pikler vertrat die Ansicht, die Persönlichkeit eines Kindes könne sich dann am besten entfalten, wenn es sich möglichst selbstständig entwickeln darf. Aufgabe der Erwachsenen sei es, dem Kind Geborgenheit in sicheren, stabilen Beziehungen zu vermitteln und seine Umgebung so zu gestalten, dass das Kleinkind entsprechend seinem individuellen Entwicklungsstand selbstständig aktiv werden könne.

Die vier Prinzipien der Pikler-Pädagogik

  1. Respekt vor der Eigeninitiative des Kindes und

    die Unterstützung seiner selbstständigen Tätigkeit,
  2. Unterstützung einer stabilen persönlichen Beziehung des Kindes

    zu relativ wenigen, aber vertrauten Bezugspersonen,
  3. Bestreben, dass sich jedes Kind angenommen und anerkannt fühlt,
  4. Förderung des optimalen körperlichen Wohlbefindens und der Gesundheit des Kindes.

Nach der Pikler-Pädagogik sind dazu insbesondere drei Aspekte wichtig

  1. Pflege, die als behutsame körperliche Versorgung und als Kommunikation mit dem Kind geschieht und immer darauf achtet, dass das Kind nach eigenem Wunsch beteiligt wird,
  2. Bewegungsentwicklung, die das Kind aus eigenem Antrieb und nach eigenem Rhythmus macht, ohne die lenkenden und beschleunigenden Eingriffe des Erwachsenen,
  3. Spiel, das frei und ungestört in einer geschützten, altersgemäß ausgestatteten Umgebung stattfindet.

Nach Emmi Pikler bedeutet Babypflege innige Kommunikation

Emmi Pikler ging davon aus, dass Säuglingspflege bereits Erziehung ist. Den größten Teil seiner sozialen Erfahrungen macht ein Baby, während es gefüttert, gebadet, gewickelt sowie an- und ausgezogen wird. Deswegen ist der liebe- und respektvolle Umgang mit dem Baby von größter Wichtig keit. Die Grundsätze der Pikler-Pädagogik lassen sich auch zuhause einfach umsetzen:

  • Sprechen Sie bei allem, was Sie tun, mit Ihrem Kind. Erklären Sie ihm, was als Nächstes kommt, und zeigen Sie ihm jeden Gegenstand, den Sie verwenden (z. B. Haarbürste, Waschlappen), sowie jedes Kleidungsstück (z. B.: „Schau, hier ist dein Jäckchen, und das möchte ich dir jetzt anziehen“). Sehen Sie Ihr Baby an, während Sie mit ihm sprechen.
  • Warten Sie, bis Ihr Baby bereit ist mitzumachen. Schon wenige Wochen alte Babys sind zu kooperativem Verhalten fähig; sie zeigen dies mit Blicken, Gesten und Bewegungen. Im Alter von drei Monaten kann Ihr Baby beispielsweise bereits sein Ärmchen ausstrecken, wenn Sie ihm das Jäckchen überziehen wollen. Dazu müssen Sie sich jedoch gedulden, bis es dazu bereit ist. Auch wenn es vielleicht ein wenig länger dauert, sollten Sie die  Arme Ihres Kleinen nicht „zwangsweise“ in den Ärmel schieben. So berauben Sie Ihr Kind nämlich des Erfolgserlebnisses, dass es mithelfen konnte. Aus Freude über die gelungene Zusammenarbeit wird Ihr Kind beim nächsten Mal wieder bereit sein mitzuhelfen.
  • Lassen Sie sich Zeit, und seien Sie voll bei der Sache. Als Eltern neigen wir manchmal dazu, Tätigkeiten wie Wickeln oder An- und Ausziehen als mehr oder minder „lästige Pflicht“ so schnell wie möglich zu erledigen, um dann wieder Zeit für das „Eigentliche“, das Spielen mit unserem Kind, zu haben. Vermeiden Sie bei der Babypflege alle Eile und Hektik. Ihr Baby darf und soll sich als Mittelpunkt der Welt erleben, wenn es gefüttert, gewickelt oder gebadet wird. Wenn Ihr Kind zu diesen Zeiten Ihre ungeteilte liebevolle Aufmerksamkeit bekommt, erfährt es „Ich bin jetzt am wichtigsten“ und muss nicht den ganzen Tag um Aufmerksamkeit kämpfen.
  • Schaffen Sie Sicherheit durch bekannte Abläufe. Achten Sie darauf, dass Sie bei der Pflege Ihres Kindes möglichst immer in der gleichen Reihenfolge vorgehen. Auch ein klarer räumlicher und zeitlicher Rahmen gibt Ihrem Kind Orientierung. Es sollte durch einen eindeutigen Anfang und ein klar erkennbares Ende wissen, wann es Zeit ist für innige Pflegemomente. Auch das Wo steht bereits vorher fest, beispielsweise Wickeln im Bad und Füttern in der Küche.

Bewegungsentwicklung nach Emmi Pikler: eins nach dem anderen

Emmi Pikler entdeckte schon in den 1930er Jahren, dass ein Kind, dem man dafür genügend Zeit lässt, sämtliche Bewegungsarten von allein herausfindet und trainiert. Die Kleinen erproben eine neue Bewegungsart erst dann, wenn sie sich in der vertrauten absolut sicher sind und diese jederzeit von sich aus einnehmen oder verlassen können. Für Babys in den ersten Lebensmonaten ist die Rückenlage am besten geeignet. So kann der Säugling die eigenen Hände und Füße entdecken und erkunden. Später kann er in dieser Lage auch immer geschickter mit Gegenständen hantieren. Mit der Zeit dreht sich das Baby aus eigenem Impuls vom Rücken in die Seitenlage und schließlich auf den Bauch. Dabei entdeckt es die verschiedenen Fortbewegungsarten wie Robben, Kriechen, Krabbeln und lernt von sich aus – ohne Hilfe von außen – zu sitzen, zu stehen und zu gehen. Vielfältige Übergänge zwischen diesen Bewegungen und Positionen sind die Regel. Der Prozess des Aufrichtens geschieht dabei langsam und kontinuierlich.

Unterstützungsangebote wie etwa das Hinsetzen mit einem Kissen im Rücken, damit das Baby Halt findet, behindern in Wirklichkeit die selbstständige Bewegungsentwicklung und bringen das Kind um den Erfolg, etwas aus eigener Kraft herausgefunden und erreicht zu haben. Pikler war der Ansicht, dass Förderprogramme schädlich seien, da sie eine Abhängigkeit des Kindes vom Erwachsenen erzeugen würden. Deshalb sollten Eltern ihrem Kind so viel Zeit lassen, wie es braucht – und die kann sehr unterschiedlich sein! Natürlich dürfen Sie Ihrem Kind Anreize geben, etwas Neues  auszuprobieren, etwa ein Spielzeug so hinlegen, dass es sich ein wenig drehen muss, um es zu erreichen. Grundsätzlich wird jedes Kind aber im freien Spiel beim ungestörten Experimentieren von selbst seine motorischen Fähigkeiten und gleichzeitig auch sein Selbstbewusstsein entwickeln.

Pikler-Kurse gibt es in immer mehr Städten

Um Eltern mit den Grundzügen der Pikler-Pädagogik vertraut zu machen und sie anzuleiten, gibt es in immer mehr Städten spezielle Kurse. Sie werden z. B. von Familienbildungsstätten und Volkshochschulen angeboten und laufen unter Bezeichnungen wie „Elternschule“, „Pikler-Pädagogik“ oder „Pikler-Kurse“. Auch in den „SpielRäumen für Bewegung“ (siehe Premiumteil) gibt es entsprechende Kurse. Die Kurse richten sich an Eltern mit ihren Babys im Alter zwischen dem 4. und 5.Monat. Alle Babys eines Kurses sind im selben Alter. In den Kursen gibt es kein Programm, stattdessen lädt ein entwicklungsgerecht vorbereiteter Raum die Kleinen ein, sich frei zu bewegen und sich selbst mit den vorhandenen Materialien zu beschäftigen. Dem Alter der Kinder entsprechend liegen bzw. stehen verschiedene Gegenstände zum Hantieren, Bewegen und Klettern bereit. Nach einer kurzen Begrüßung jedes Babys werden die Kleinen auf das Spielen vorbereitet. Während die Säuglinge konzentriert erkunden und hantieren, beobachten die Mütter sie beim Spiel. Während der Kursstunde bespricht die Kursleiterin mit jeder Mutter die individuellen Fortschritte ihres Kindes und gibt Informationen oder Hilfestellung bei Problemen im Babyalltag. Es finden acht bis zehn Treffen zu je eineinhalb Stunden statt. Dafür fallen Kosten in Höhe von 70 bis 90 € an.

Spie-Räume für Bewegung

Ältere Kinder, die zu wenig Gelegenheit zur selbstständigen Bewegungsentwicklung hatten, können in der Natur und an Kletter- bzw. Balanciergeräten ihre Bewegungsfähigkeit trainieren, um zunehmend geschickter und mutiger zu werden. Besonders geeignet sind hierzu spezielle Pikler-Materia Materialien wie Kriech- und Krabbelgeräte, Dreiecksleitern, Kippelscheiben oder auch Bretter zum Bauen für Eigenkonstruktionen. Solche Pikler-Materialien gibt es in den „SpielRäumen für Bewegung“. Diese bieten Bewegungsangebote für Kinder ab vier Monaten bis etwa sechs Jahren. Hier können Kinder gleichen Alters in Begleitung ihrer Eltern oder Erzieherinnen selbstständig die vorbereiteten Spiel- und Bewegungsmaterialien für sich entdecken und erkunden.

Die „SpielRäume“ werden von autorisierten Spiel-Raum-Leiterinnen bzw. Pikler-Pädagoginnen geleitet, die gerne auch Anregungen geben und den Eltern helfen, angemessen und liebevoll auf die Signale ihres Kindes zu reagieren. Die ersten „SpielRäume für Bewegung“ entstanden 1998 in Berlin, inzwischen gibt es auch einige weitere „SpielRäume“ im Bundesgebiet (Adressen unter www.pikler-spielraum.de/adressen.html).

Wer war Emmi Pikler?

Die Kinderärztin Dr. Emmi Pikler (1902 bis 1984), selbst Mutter von drei Kindern, begann um 1935 intensiv die Bewegungsentwicklung von Kindern zu studieren. Damals war es üblich, Säuglinge monatelang in Wickelkissen oder enge Wiegen zu legen, sie später auf dem Arm herumzutragen, zum Sitzen hochzuziehen und die Kinder in die Ecke des Bettes oder in hohe Kinderstühle zu setzen, „damit sie die Welt besser sehen können“. Sie wurden „aufgestellt“, und das Gehen wurde ihnen „beigebracht“. 

Emmi Pikler bezweifelte von Anfang an, dass Babys das Sitzen, Stehen und Gehen von Erwachsenen lernen und zum Üben angeregt werden müssten. Auch zweifelte sie daran, dass solche Eingriffe die Entwicklung beschleunigen oder sich günstig auf den weiteren Werdegang eines Kindes auswirken würden. Daher entschied sie, gemeinsam mit ihrem Mann, einem Pädagogen, ihren Kindern freie Bewegungsmöglichkeiten zu geben und deren Entwicklung geduldig abzuwarten. Die dabei gewonnenen Erfahrungen bildeten die Grundlage für weitere Forschungen.

1946 gründete sie in Budapest das Säuglingsheim „Lóczy“ (seit 1986 Pikler-Institut), ursprünglich für die Kinder tuberkulosekranker Mütter, inzwischen ein Kinderheim für Sozialwaisenkinder. Pikler wählte die Pflegerinnen sehr sorgfältig aus und schulte sie im liebe- und respektvollen Umgang mit ihren Schützlingen. Schon bald stieß ihre Arbeit auf weltweite Beachtung, da die Kinder in ihrem Säuglingsheim ungewöhnlich gut gediehen. 1979 gab Emmi Pikler die Leitung des Kinderheims auf, sie arbeitete aber weiter wissenschaftlich bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 1984. Das Emmi-Pikler-Institut wird inzwischen von der Kinderpsychologin Anna Tardos, einer Tochter Emmi Piklers, geleitet.